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004. Kapitel: Hisamori Shouten |Vor den Toren 001|
          

 

Der druckvolle, kalte Wasserstrahl zerbarst bei Kontakt mit Nacken und Schulterblättern augenblicklich in unzählige kleine Rinnsale, die ihm wild und formlos am Körper hinab rannen. Es war so wohltuend, dass er sich für einen Moment wünschte, ewig so zu verharren.

Allerdings war das wohl kaum möglich, zumal er ohnehin schon spät dran war und die Anderen sicher längst frühstückten.

 

Bis in den späten Vormittag hinein hatte er geschlafen wie ein Stein, was angesichts der Umstände kaum verwunderlich war, ihn aber dennoch ärgerte. Gerade heute wollte er beim Essen ungern auf die Gesellschaft seiner Mitbewohner verzichten. Ein bisschen Geborgenheit würde ihm gut tun, schließlich war es damit aller Voraussicht nach bald schon vorbei. Irgendeiner von denen da unten brachte ihn doch immer zum Lachen, warum sollte das nicht auch heute so sein?

 

Er ging in die Hocke und betastete seinen großen Zeh am rechten Fuß, den er sich schmerzhaft am Türrahmen gestoßen hatte, als er noch immer schlaftrunken hastig ins Bad gewankt war. Vorne hatte sich ein kleiner blauer Fleck unter dem Nagel gebildet, der ihm bei Kontakt ein leichtes Brennen durch den Fuß jagte, aber das war glücklicherweise auch schon alles.
„Da komm ich wohl nochmal mit dem Leben davon“, sagte Shirou seufzend und richtete sich etwas behäbig wieder auf. Einige Sekunden später, als seine Gedanken gerade darum kreisten, was er wohl als erstes essen würde, klopfte es unvermittelt an der Tür.

 

„Herr Kodaibashi?“

 

„Hikari…? Was ist denn los?!“

 

Seine Antwort hatte einen Moment lang auf sich warten lassen. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass die Vermieterin auch nur einmal hier Oben gewesen war, während er noch unter der Dusche stand. Dass sie es für nötig befunden hatte jetzt mit ihm zu sprechen, konnte doch nur bedeuten…

 

„Sie werden von der jungen Dame erwartet, in deren Begleitung Sie gestern Abend hier ankamen.“
Eine kurze Pause entstand.

 

„Oooh, na toll. Sag‘ ihr…, sag‘ ihr ich bin in zehn Minuten da, ok? Ich mach so schnell ich kann.“

 

Unter einem erneuten, leisen Seufzen stellte Shirou das Wasser ab, strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht und griff nach einem Handtuch.

 

„Herr Kodaibashi, darf ich Sie daran Erinnern, dass sexuelle Entgleisungen jedweder Art zwischen Mann und Frau in den Räumlichkeiten der Maison Kyūsekai strengstens untersagt sind?

Sollten Sie diese Regel nicht bereits verinnerlicht haben, dann…“

 

„Hier entgleist überhaupt gar nichts!“, entgegnete er jetzt mit etwas mehr Nachdruck als vielleicht nötig gewesen wäre. Manchmal konnte es Hikari mit ihrem Geschwafel aber auch wirklich übertreiben. Wäre da nicht die Sache mit Kurenai und Yuriko, hätte man sie fast schon für eine Nonne halten können.

 

„Ich bin Vanadis was schuldig und deshalb werd‘ ich ihr in nächster Zeit ein wenig unter die Arne greifen. Das ist alles.“
Diese Erklärung schien gut genug gewesen zu sein. Jedenfalls sah die Vermieterin von weiteren Nachfragen ab, sodass er sich ungestört fertig machen konnte und im Rahmen des sich selbst auferlegten Zeitlimits die hölzerne Treppe in den Wohnbereich hinabgestiegen kam. Das Erdgeschoss der Maison war offen und licht-durchflutet. Alle sich dort befindlichen Räume gingen in einander über – Türen suchte man vergebens.

 

Selbst in dieser Anfangs etwas grellen Umgebung, das obere Stockwerk war abgedunkelt, bemerkte er die auf ihm ruhenden Blicke sofort. Seine “Verabredung“ schien ja ein echtes Jahrhundertereignis zu sein. Na zum Glück wusste die Bande der Schaulustigen nicht, was wirklich los war.

 

„Da bist du ja endlich, Kleiner. Wir haben uns schon ein bisschen mit deiner Freundin hier unterhalten“, begrüßte ihn Kurenai, den Arm um die Hexe gelegt.

 

Diese goss sich gerade den letzten Rest Orangensaft ein, was Shirou unter normalen Umständen stinksauer gemacht hätte. Aber so wie die Dinge sich entwickelten, würde er eh nicht mehr zum Frühstücken kommen. Sie würde wohl kaum so lange warten, bis…

 

„Wurde aber auch Zeit. Na komm, lass uns gehen, du kannst unterwegs was essen.“

 

Er senkte den Kopf.
„Bis später, Leute.“

 

Akiyama, der bisher kaum eine Regung gezeigt hatte, musterte das ungleiche Paar mit scharfen Augen.
„Ist da vielleicht etwas, dass wir wissen sollten, Shirou?“
Seine rechte Hand krümmte sich knackend zusammen.
„Wenn du Schulden hast, kann ich dir helfen.“

 

„Nicht bei der Art Schulden“, erwiderte die Hexe kalt.

 

„Was ist hier eigentlich los?!“ Kurenai verstärkte ihren Griff um Vanadis, doch diese konnte sich mühelos daraus befreien und stand auf.

 

„Euer lieber Mitbewohner hat sich diese Sache selbst eingebrockt. Ich kann euch nur raten, euch da nicht einzumischen.“

 

Jetzt stand auch Yuriko auf.
„Egal worum es geht, du kannst wenigstens warten, bis Shirou auch was gegessen hat!“

 

Er holte tief Luft und strich sich das schwarze Haar aus dem Gesicht.
„Danke Leute. Aber glaubt mir, ich komm zu Recht. Heute Abend kann ich euch mehr sagen.“

 

„Das würd‘ ich dir nicht empfehlen“, entgegnete seine neugewonnene Herrin, mit der er wenn überhaupt nur äußerst widerwillig Blickkontakt suchte.

 

„Sag‘ du doch auch mal was, Hikari!“, warf Kurenai daraufhin lautstark ein. Doch die Vermieterin, die bis dahin mit keinem Wort an der hitzigen Diskussion teil-genommen hatte, machte auch jetzt keinerlei Anstalten, selbst etwas heißblütiger zu werden.

 

Im Gegenteil. Sie blickte derart ungerührt in die Runde, als könnte sie diese ganze Sache nicht weniger interessieren.
Da waren sie wieder, diese kalten, berechnenden Augen, die ihn schon bei seiner ersten Begegnung mit ihr gleichsam fasziniert und abgestoßen hatten.
Sie ist gefährlich – hatte er damals gedacht. Wenn auch unwissentlich darüber, wo genau der Ursprung dieser Gefahr lag.

 

„Herr Kodaibashi hat ganz offensichtlich etwas zu erledigen… - wir sollten ihn nicht aufhalten.“

 

 ***

 

 „Die Weißhaarige hat deine Kumpanen ja ganz schön im Griff, was?“
Vanadis legte die Stirn in Falten.
 Irgendwas an ihr ist eigenartig - es war schon unangenehm, nur neben ihr zu sitzen.“

 

„Ja, manchmal kann sie ganz schön unheimlich sein“, erwiderte er, ohne die Hexe anzusehen.

 

Nach Hikaris Worten hatten ihn die Anderen beinahe ohne weiteres Aufbegehren ziehen lassen. Warum wusste wohl nur Gott allein.
Shirous Hand zitterte unwillkürlich, als er sich eines der  Takoyaki-Bällchen in den Mund schob, die er von seinem letzten Geld an einem etwas herunter-gekommenen Straßenstand mitgenommen hatte.

 

„Du, sag‘ mal…, wohin willst du eigentlich? Wir laufen jetzt schon ne ganze Weile durch die Gegend.“

 

Sie grinste.
„Erst mal besorg‘ ich dir einen Job.“

 

„Einen Job?!“

 

„Ganz genau. Da wirst du Augen machen, glaub‘ mir.“

 

-Na das kann ja heiter werden-, dachte er seufzend, während er sich die ihm fremde Umgebung genauer besah.
Sie war noch weitaus heruntergekommener als der alte Straßenstand. Wo er auch hinsah traf sein Blick auf zersplitterte Fenster und vernagelte Türen. Und wenn er doch mal ein bewohntes Gebäude erspähte schien es ratsam, möglichst schnell weiter zu gehen.

 

„Hier ist es ja übel. Fast wie ausgestorben“, sagte er ein wenig kleinlaut und war nun recht froh über den Geleitschutz aus der Unterwelt, auch wenn er sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, bereits dort zu sein.

 

„Dein zukünftiger Chef steht nicht sonderlich auf Gesellschaft, weißt du. Deshalb bevorzugt er ruhige Ecken, wie diese.“

 

-Ruhig in Anführungszeichen…-

 

„Was für ein Geschäft betreibt er denn?“

 

„Einen Laden für spezielle Kunden mit speziellen Vorlieben und Wünschen“, antwortete sie knapp.

 

„Das hört sich oberflächlich betrachtet gar nicht so schlimm an.“
Er ließ ein etwas unsicheres Lachen hören.

 

„Warts nur ab, du wirst es lieben“.

 

„Also, ich weiß nicht, ich…“

 

Vanadis hatte angehalten. Das letzte Drittel der langgezogenen, kleinen Straße war im wahrsten Sinne des Wortes ausgestorben und endete in einer Sackgasse. Dort, wo es nicht mehr weiter ging, befand sich ein zweistöckiges Holzhaus, dessen blickdichte Scheiben allesamt nicht einen Kratzer aufwiesen. Das Gebäude war nach unten hin eingerückt, sodass sich eine kleine Veranda bildete, die von dem leicht überstehenden, zweiten Stockwerk, welches links und rechts von Stützpfeilern gehalten wurde, überdacht war.
Auf eben dieser Veranda saß ein muskulöser, kahlgeschorener Kerl mit langem, rotbraunem Vollbart und Sonnenbrille, der gerade einen Schwall Zigarettenqualm in den leicht bewölkten, vormittäglichen Himmel ausstieß. Er sah nicht gerade aus wie der typische Einzelhandelskaufmann, eher schon wie das Oberhaupt einer örtlichen Rockerbande.

 

„Das ist es?“, fragte Shirou unsicher.
„Von außen betrachtet hätte ich den Schuppen für alles Mögliche gehalten, aber bestimmt nicht für irgend ‘ne Art Laden. Auf jeden Fall geben sie sich nicht gerade Mühe, Kunden anzulocken.“
Der Mitarbeiter des Monats winkte die Beiden jetzt heran, ehe er einen weiteren, ausgiebigen Zug nahm.

 

„Hier soll ja auch nicht jeder herkommen, du Spatzenhirn“, zischte die Hexe leise, während sie sich dem Holzhaus näherten.

„Dieser Ort ist allgemein bekannt – zumindest in gewissen Kreisen der Unterwelt. Hier findest du eine Lösung für fast jedes Problem.“

 

Noch ehe er eine zufriedenstellende Antwort darauf fand, was genau das in diesem Zusammenhang wohl bedeuten mochte, stand der Junge bereits vor dem hünenhaften Koloss, der sich mittlerweile, die Zigarette hinter dem linken Ohr, zu seiner vollen Größe aufgerichtet hatte. Er trug eine bereits reichlich ramponierte Jeans und ein schwarzes T-Shirt, auf dem in weißer Schrift Hisamori Shouten – Joe stand.

 

„Hallo Joseph, na wie geht’s?“

 

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, sah sich Vanadis einer derart innigen Umarmung ausgesetzt, dass sie erst mal nach Luft schnappte, als der Riese sie wieder runtergelassen hatte.

 

„Vanadis, du ahnst ja gar nicht wie sehr ich mich freue, dich wiederzusehen“, sagte er mit einer etwas verrauchten, väterlichen Stimme, die ihn zu Shirous Erleichterung gleich weit weniger Bedrohlich wirken ließ.

 

„Glaub mir, ich ahne es…“, antwortete die Hexe immer noch etwas schwachbrüstig.

 

„Und das muss der Neue sein, von dem mir der Chef erzählt hat. Siehst‘ aus wie ein fähiger junger Mann, Kleiner! Ein bisschen dürr vielleicht…“

 

Shirou lachte verlegen.
„Hi Joe. Für mich keine Umarmung bitte.“

 

Joseph setzte in einer einzigen, durchgehenden Bewegung die Brille ab, woraufhin der Junge unwillkürlich zusammenzuckte, als er dessen Augen sah, die aus nichts als völliger Schwärze bestanden. Pupille, Iris und sonstige Merkmale waren nicht zu erkennen.

 

„Mein Junge, Umarmungen bekommt man nicht einfach so geschenkt – nein… - die muss man sich erst verdienen.“

 

„A-alles klar…“, mehr brachte er nicht hervor.

 

„Ist Yūsuke auch da?“

 

„Ja, er wartet schon auf euch.“

 

„Dann wäre das ja auch geklärt. Los Kleiner, komm mit.“
Vanadis ergriff seine Hand und zog ihn an dem Hünen vorbei ins Innere des Gebäudes, wobei ihm der schon halb verblasste Schriftzug Hisamori Shouten über der Tür auffiel.

 

Drinnen angekommen sah er sich derart vielen Eindrücken ausgesetzt, dass er sie unmöglich alle hätte verarbeiten können. Links und rechts von ihm zogen sich meterhohe Regale an den Wänden entlang, die von verstaubten, teils reichlich bizarren Artefakten in allen Formen und Größen geradezu überquollen. Vor diesen Regalen befanden sich in regelmäßigen Abständen mehrere Glasvitrinen, die wohl besonders wertvolle Stücke beherbergten. In gerader Linie ihm gegenüber erstreckte sich ein weiteres, riesiges Regal über die gesamte Breite des Raumes. Es war bis zum letzten Platz mit hunderten von Büchern gefüllt, die allesamt in Leder gebunden waren und ziemlich alt aussahen. Im Zentrum des eichenen Ungetüms befand sich ein Hohlraum, der wiederrum den Durchgang zu einer in diesem Augenblick geschlossenen Tür ermöglichte, auf der -Nur für Mitarbeiter- stand.

 

Das Gebäude war bis zum Dachboden nach oben hin offen, sodass man vom Erdgeschoß hinauf in den zweiten Stock sehen konnte, der ringsum von einem Geländer eingerammt war. Was sich hinter diesem befand konnte Shirou allerdings nicht genau sagen – es war schlichtweg zu dunkel, um etwas zu erkennen.
Schließlich leitete ihn sein Blick über den von einigen Kratzern und Einkerbungen entstellten Parkettboden zu einer der ihm schräg gegenüberstehenden Vitrinen, wo sich zwei reichlich sonderbare Gestalten angeregt unterhielten.

 

Jene Person, von der er annahm, dass es sich um einen Kunden bzw. eine Kundin handelte – so genau konnte man das nicht sagen – sah aus wie eine wabernde, schwarze Ansammlung einer ihm unbekannten Flüssigkeit, deren sich ständig neu ordnende Form mit viel gutem Willen etwas menschlichem gleichkam. Das “Gesicht“ der Kreatur jedoch wies keinerlei Konturen auf. Lediglich ein rotes Glühen, wo er die Augen vermutete, sowie eine Art Mundöffnung, die immer wieder aus dem dickflüssigen Brei hervortrat, ließen ein selbstständig handelndes Wesen erahnen.

 

Der zweite Gesprächspartner hatte ihnen den Rücken zugewandt, sodass Shirou mit Ausnahme der gewaltigen, knochenartigen Hörner, die Vanadis' verkümmerte Exemplare aussehen ließen wie abgebrochene Zahnstocher, kaum etwas von ihm erkennen konnte.
Wenn er ehrlich war, hatte ihm die Rückansicht schon gereicht, doch als die Hexe regelrecht euphorisch verkündete, den neuen Angestellten dabei zu haben, stand dieses Thema ohnehin nicht mehr zur Debatte.
Der Besitzer von Hisamori Shouten war ein großgewachsener, etwas blasser Mann mit Dreitagebart und dunkelbraunem, gelocktem Haar, das ihm weit über die Schultern fiel. Als er sich dem ungleichen Paar zuwandte, verzog sich sein Gesicht zu einem dieser unnahbaren, kalten Lächeln, die nicht viel mehr als Fassade waren und für gewöhnlich Sätzen wie -Es gibt keine Überlebenden…- vorrausgingen.  

 

Einzig der dunkelgrüne Kimono und die bereits ein wenig mitgenommenen, ebenfalls dunkelgrünen Pantoffeln passten nicht ganz ins Bild. Es wirkte fast so, als sei er gerade erst aufgestanden.

 

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S
houten = Laden ; Geschäft

 

 

 

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