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001. Kapitel: Vom Licht, das die alte Brücke umschlossen hält |Seelenlast 001|

 

 

Die Maison Kyūsekai schien beinahe schon so etwas wie ein Zufluchtsort für Verstoßene zu sein. Zumindest konnte man sich dieses Gedankens angesichts ihrer Bewohner kaum erwehren, die allesamt in gewisser Weise vom Leben gezeichnet waren.

 

Derzeit beherbergte das auf einer Anhöhe gelegene, weitestgehend abgeschottete Anwesen vier mehr oder weniger ziellose Individuen, die das Fräulein Hikari allesamt während der letzten Jahre aufgelesen hatte.

 

Wenn die Leute sich auch sonst über alles und jeden das Maul zerrissen, so war ihnen doch kaum etwas über die zu allen Zeiten recht verschlossene Eigentümerin des wachsam über den Dächern der Stadt thronenden Gebäudes bekannt. Während der seltenen Gelegenheiten, die ein persönliches Treffen zuließen, war sie stets freundlich und zuvorkommend, wenn auch auf eine wenig herzliche, angelernte Art. Der aufmerksame Betrachter hätte ihre ganze Wesensart wohl als “von alter Schule“ bezeichnet. Allerdings konnte ihre Stimmung Gerüchten zufolge allzu schnell umschlagen, wenn man mit der Miete in Verzug war. Ihre vier Mitbewohner, schließlich lebte sie mit den jungen Leuten unter einem Dach, schwiegen jedenfalls beharrlich zu diesem Thema, ganz gleich, wie oft man sie danach fragte.  

 

„Dann muss ja was dran sein. Ich sag‘ euch, die Frau is‘ ne Furie“, hatte diesbezüglich unlängst der alte Nakamura verlauten lassen. Ein ungewaschener, ständig besoffener Kerl mit glasigen Augen, der früher mal Boxer gewesen war und heute nur noch vollen Biergläsern den Kampf ansagte.

 

Ja…, sie sorgte ein ums andere Mal für Gesprächsstoff. Diese wunderschöne Frau mit den seltsam kalten Augen, deren schneeweiße Haut von noch weißerem Haar umgarnt wurde, das ihr in glatten Strähnen bis weit über die Schultern fiel.

 

Akiyama, ein großgewachsener, stämmiger Kerl mit harten Gesichtszügen und kahlrasiertem Schädel, dessen gesamter Körper von furchenartigen Narben durchzogen war, hatte als erster zu ihr gefunden. Das war mittlerweile fast sechs Jahre her. Früher einmal war er das Oberhaupt einer Straßenbande gewesen, damals kannte man seinen Namen bis weit über die Stadtgrenzen hinaus. Auch heute noch war er jemand, den man sich sicher nicht zum Feind machen wollte, obgleich er der Gewalt abgeschworen hatte und sich seither alle Mühe gab, die Kohle für die Miete auf ehrliche Weise aufzutreiben. Nicht das Hikari diesbezüglich zimperlich gewesen wäre. Das Geld war am Stichtag abzuliefern. Woher die Scheine kamen und mit welchen Mitteln sie erlangt wurden, kümmerte sie herzlich wenig. Im Grunde seines Herzens war Akiyama wirklich ein netter Kerl, niemand, der ihn näher kannte, hätte das abstreiten können. Jedenfalls schnitt er im Vergleich zu seinen Zimmergenossen mehr als gut ab.

 

Etwa ein halbes Jahr nach ihm zogen dann Kurenai und Yuriko ein. Sich offensichtlich in einem Status befindend der einer Beziehung gleichkam - obwohl diese hauptsächlich aus nächtlichem Rumgestöhne bestand - hingen die beiden ständig aufeinander. Allerdings taten sie die meiste Zeit aber auch nicht mehr als eben das. Ihr Tag bestand im Allgemeinen aus stundenlanger Meditation vor dem Fernseher. Eine Tätigkeit, die im Regelfall halb nackt und mit einem Becher Sake in der Hand vollzogen wurde. Manchmal wandten sie sich auch tagsüber einander zu, aber viel mehr Abwechslung war nicht vorhanden. Niemand wusste so genau, wie sie die Miete aufbrachten, aber letztlich zahlten sie jedes Mal fristgerecht, womit sich weitere Fragen erübrigten.

 

Sie verfügten wohl beide über ziemlich ansehnliche, weibliche Rundungen, womit sich ja bewiesenermaßen einiges an Geld verdienen ließ, doch jegliche Spekulationen in dieser Richtung verboten sich selbstverständlich.
Genau wie Hikari waren die zwei echte Schönheiten.  
Kurenai, deren azurblaue Augen wohl jeden Mann um den Finger wickeln konnten, trug ihr dunkelbraunes, gelocktes Haar meist offen, während Yuriko die glatte, hellblonde Mähne fast immer zu einem etwas zerzausten Zopf zusammengefasst hatte.

 

Das Grün ihrer Augen faszinierte ihn. Es war einzigartig – oder zumindest äußerst selten. Ein solches Grün hatte er noch nie zuvor gesehen. Er, Shirou Kodaibashi, war das vierte und letzte Mitglied dieser illustren Runde. Erst vor knapp einem Jahr zu den anderen gestoßen, schlug er sich seitdem so durch. Es war ohnehin nie anders gewesen. Den frühesten Jahren, die von unschönen Aufenthalten in mehreren staatlichen Waisenhäusern geprägt waren, folgte eine so knapp wie möglich bemessene Schullaufbahn – immerhin von einem Abschluss gekrönt – wiederrum gefolgt von nicht gerade ergiebiger Plackerei in jedem Job, der sich finden ließ.

 

Da lag auch schon das Problem, denn eine Arbeit hatte er bereits seit einigen Wochen nicht mehr gefunden. Eigentlich nicht weiter verwunderlich, schließlich war wohl kaum jemand auf der Suche nach einem ständig unrasierten, fertigen Typen Anfang 20, der praktisch keinerlei Qualifikationen vorzuweisen hatte. Die dunklen Ringe unter den Augen in Kombination mit seinem wilden, schwarzen Haar, das ihm die meiste Zeit ungekämmt ins Gesicht fiel, waren allenfalls einer Festanstellung als Geisterbahn-Zombie dienlich. Wobei Geisterbahn-Zombies wohl kaum zu den Topverdienern zählten.

 

Den Umständen geschuldet musste Shirou also gezwungenermaßen einige Einsparungen vornehmen, um den ohnehin schon mageren Kontostand nicht noch mehr zu belasten. Das Geld für seinen Verbleib in der Maison hatte er zwar schon entrichtet, doch für so triviale Dinge wie Essen und Trinken war im Anschluss nicht mehr viel übrig gewesen. Anstatt bei Hikari zu schnorren hatte er sich daraufhin mal wieder für den leichteren Weg entschieden und stand in diesem Moment mit leeren Taschen aber großen Ambitionen im Schatten des kleinen Supermarkts am Ende der Straße.
Ein abendlicher Windhauch strich ihm sanft über die blasse Haut, als er sich schließlich in Bewegung setzte, von den Fäden des Schicksals gelenkt…     

 


***

 

 

Etwa zehn Minuten vor Ladenschluss schien Shirou zu seinem Glück der letzte verbleibende Kunde zu sein, weshalb er sich mehr oder weniger ungestört in den verwinkelten, spärlich befühlten Regalreihen ans Werk machen konnte.

 

Der Junge ließ sich Zeit…, blieb ab und an für eine Weile vor den Auslagen stehen, ganz so, als könne er sich nicht recht entscheiden. Ganz cool - nur keine Eile. Wer so etwas unruhig und mit der Kapuze im Gesicht möglichst schnell hinter sich zu bringen versuchte, konnte seinen Raubzug ebenso gut im Vorfeld per Telefon ankündigen. Außerdem galt es, den Wahrnehmungs-bereich des Besitzers, welcher wie immer hinter der Kasse saß, weiträumig zu umgehen. Das etwas untersetzte Männchen hatte ihm schon beim Reinkommen einen strafenden Blick zugeworfen, schließlich war er nicht das erste Mal hier. Sicherheit ging vor. Shirou war kein Rabe der so viel mitschleppte, dass er kaum noch vorwärts kam. Es galt lediglich die Lebensmittel an sich zu nehmen, die von angemessener Wichtigkeit und zudem in Reichweite waren.

 

Nachdem er alles beisammen hatte hielt er einen Moment inne.
-Damit dürfte ich den Rest des Monats überstehen. Verdammt! Was bist du doch nur für ein jämmerlicher Kerl, Kodaibashi…-

 

Er atmete tief durch und war froh, die stickige Luft des kleinen Ladens nicht mehr lange ertragen zu müssen, ehe er sich zum Gehen wandte. Beinahe schon auf der Türschwelle, ließ ihn die verrauchte, etwas gebrechliche Stimme des Mannes hinter der Kasse innehalten.

 

„Waren Sie auf der Suche nach etwas Bestimmtem, mein Junge?“

 

Shirou drehte sich nicht um.

 

„Ja, ich habe diese besonders scharfen Jalapeño-Chips gesucht. Sie wissen schon, die mit dem Teufel auf der Packung. Erst dachte ich, Sie hätten vielleicht umgestellt, aber…“

 

„Die sind schon seit gestern weg“, fiel ihm der Besitzer ins Wort. „Aber am Mittwoch kommt wieder neue Ware.“

 

Es folgte eine kurze Pause, woraufhin er dem älteren Herren versicherte, es nächste Woche noch einmal versuchen zu wollen. Gleich darauf war er in die abendliche Dunkelheit verschwunden.

 

Er seufzte. „Na das ist ja gerade nochmal gut gegangen.“
Seine magere Beute drückte unangenehm unter der Jacke. Etwas Brot, zwei Äpfel, dazu eingelegter Tintenfisch in einer Plastikschale. Da sag noch einer, Kriminalität würde sich nicht lohnen. Ein verbittertes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit.

 

„Fehlt nur noch Margarine zu einem Schlemmermenü.“
Irgendwie freute er sich jetzt auf zu Hause. Wenn man seinen Mitbewohnern auch einiges Vorhalten konnte, langweilig war es nie mit ihnen. Die Bande würde ihn schon aufheitern, das stand außer Frage. Allerdings musste er sich langsam aber sicher ernsthafte Gedanken machen. So konnte es wirklich nicht weitergehen…
!!
Er war gerade in eine der vielen schmalen Seitengassen eingebogen, als das flackernde Licht einer alten Straßenlaterne unweit entfernt mit einem Mal erlosch. Die wild um sich greifende Dunkelheit brach mit solcher Wucht über ihn herein, dass er beinahe glaubte, unter ihren schwarzen Fluten zu ersticken, während einzig der plötzliche Temperaturabfall seine gelähmten Glieder in Wallung versetzte. Panisch stieß er die eiskalte Luft aus, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, ehe sich der Übermacht ein letztes, beinahe trotziges Blitzen entgegenwarf. Für den Bruchteil eines Augenblicks konnte er eine schemenhafte Fratze im Dunkel ausmachen. Wilde Augen, die Schatten versengend, folgten kalten Händen nach, die sich in eben jenem Moment auf seine Wangen legten, als alles um ihn herum an Bedeutung verlor und nichts blieb außer dem Schmerz.

 

Das letzte was er wahrnahm waren ihre Lippen auf seiner Haut, während sein kraftloser Körper endgültig in sich zusammensank.

 

„Ich fühle mich…so leer…
Werde ich…jetzt sterben?“

________

Maison   = vermietetes Wohnhaus

Kyūsekai = alte Welt

 

 

 

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